Dienstag, 28. August 2018

Diagnose: Unerzogene Arschgeige





Manchmal frage ich mich, ob andere Tierarztpraxen ihren eigenen Dr. Sexy haben, der in seinen Cowboystiefeln Helferinnen und Patientenbesitzer gleichermaßen verzaubert und verführt, dass sie keinen Tag ohne ihn aushalten können. Denn anders kann ich mir den sinnfreien Diagnosemarathon mancher Hundehalter nicht vorstellen, es sei denn, ich würde ihnen unterstellen, dass sie nach einer medizinischen Ausrede für ihr eigenes Versagen suchen.
Mir begegnen immer mehr junge Hunde, die bereits einen wahren Diagnosemarathon hinter sich haben und im Alter von drei Jahren schon öfter gepiekst wurden, als das Nadelkissen meiner Schneiderin. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches, denn auch wenn es traurig ist, gibt es nun mal Hunde, die gesundheitliche Dauerbaustellen sind und von einer Erkrankung in die nächste stolpern. Ich habe selbst so ein Exemplar hier liegen und weiß, wie ermüdend und frustrierend das ist. Umso weniger Verständnis kann ich dafür aufbringen, wenn ich dann erfahre, dass diese ständigen Untersuchungen nicht durch körperliche Symptome ausgelöst wurden, sondern durch den Wunsch zu verstehen, wieso der Hund sich immer noch nicht erziehen lässt.
Nicht dass mich jemand falsch versteht. Ich finde es begrüßenswert, dass sich herumgesprochen hat, dass körperliche Erkrankungen das Verhalten beeinflussen können und auch immer mehr Trainer bei Problemhunden daran denken, zuerst die gesundheitliche Komponente überprüfen zu lassen, bevor man mit dem Training beginnt. Doch wie immer schlagen die Hundehalter plötzlich immer häufiger ins krankhafte Extrem um und jedes unerwünschte Verhalten, dass nicht in ihr heiles Weltbild passt, muss durch eine Krankheit hervorgerufen werden.
Der Dobermannwelpe ist aufgedreht und erkennt seine Grenzen nicht? Man hat mal irgendwo im Internet gelesen, dass das von einer Fehlfunktion der Schilddrüse kommen kann und die Erkrankung bei dieser Rasse auch häufig vorkommt. Der Herdenschutzhund wird bei Dämmerung unleidig und reagiert schneller aggressiv? Dr. Google spukt Nachtblindheit aus. Der erwachsene Gebrauchshundrüde findet fremde Menschen und Artgenossen überflüssig und packt die Beißerchen aus, wenn ihm jemand zu nahekommt? Der hat sicher Schmerzen von den Gelenken oder Wirbelsäule.
Und hier trennen sich die Gesundheitssuchend in zwei Gruppen auf.
Gruppe 1 reicht die Expertise von Dr. Google. Manchmal kommt noch die Beurteilung durch den Röntgenblick eines Hundetrainers oder befreundeter Tierschützer hinzu, die Erkrankungen des Bewegungsapparates mit ihren besonderen Fähigkeiten ohnehin besser beurteilen können, als Tierärzte mit Röntgengeräten. Und obwohl in der Hinsicht nie ein Tierarzt konsultiert und auch nur eine einzige Untersuchung durchgeführt wurde, wird ab sofort jedem der nicht schnell genug wegläuft oder gar unvorsichtigerweise nachfragt, die selbst erfundene Diagnose auf die Nase gebunden und muss als Erklärung und Entschuldigung für jegliches unerwünschte Verhalten taugen. Ja, der Bubi schnappt nach fremden Menschen, weil er so extrem kurzsichtig ist und daher erschreckt – Wissen Sie, die Babsi hat ja ADHS und kläfft deswegen die ganze Zeit – Nein, der ist nicht aggressiv, der Bobby hat ein ganz schweres Hüftleiden und weil ihm andere Hunde da schon mal weh getan haben, reagiert er so böse…
Interessanterweise sucht man sich immer Diagnosen aus, bei denen eine Behandlung gar nicht oder nur bedingt möglich ist. Die perfekte Ausrede, wieso man nicht an den Macken seines Hundes arbeitet. Außerdem schlägt man meist gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen haben plötzlich viele andere Hundehalter absolutes Verständnis, wenn der Fiffi ist aufführt wie Rotz am Ärmel und zum anderen erntet man oft genug auch noch Lob und Bewunderung, weil man es auf sich nimmt, das Leben mit einem so kranken Hund auf sich zu nehmen. Spannend wird es ja immer, wenn in diesen Fällen irgendjemand anfängt, Fragen zu stellen. Sei es, weil dieser Jemand einen Hund hat, der wirklich an der Erkrankung leidet und sich austauschen will oder weil derjenige den Braten riecht und so seine Zweifel hinsichtlich der vermeintlichen Diagnose hegt. In der Regel sind die Reaktionen auf Hintergrundfragen zuerst ausweichend und dann schlägt die Stimmung sehr schnell in beleidigte Aggression um. Der Weg wird den Hundehalter aber weder in die nächste Tierarztpraxis oder zum Hundetrainer führen. Er wird sich einfach nur neues Publikum suchen, das ihm seine Mär vom kranken Hund wieder abnimmt.
Gruppe 2 macht sich durchaus auch im Internet schlau, welche Erkrankungen zu Foffis Verhalten führen könnte, will aber die Bestätigung vom Tierarzt haben. Also fährt man mit seinen Verdachtsdiagnosen in die nächste Praxis und es geht los. Blutbild, Gentests, Röntgen, Ultraschall, Augen- und Herzuntersuchungen, CT und MRT bis der Geldbeutel kracht. Wird etwas gefunden, ist der Hundehalter selig, selbst wenn man nicht wirklich einen Kausalzusammenhang zum Fehlverhalten ziehen kann, aber der Hund hat was. Doch zu oft stellt sich heraus, dass der Hund sauber ist. Paar kleinere Punkte findet man natürlich bei jedem Lebewesen, aber oft genug tut sich auch bei der kompletten Durchleuchtung keine wirkliche Baustelle auf, die irgendetwas auch nur im Ansatz erklären könnte.
Doch anstatt dann einfach mal zu überlegen, ob die Antwort auf das Problem vielleicht schlicht lauten könnte „du hast die Arschgeige einfach nicht vernünftig erzogen und im Griff“, geht die Odyssee weiter. Der Tierarzt ist ein Pfuscher und man sucht sich die nächste Praxis in der der Diagnosemarathon von vorne losgeht. Wird auch nach Jahren nichts gefunden, wechselt man nach dem 17. Ergebnislosen Blutbild und dem 10. Sauberen Röntgenbefund irgendwann zur Alternativmedizin. Zwar werden auch dort die seriösen Anlaufstellen erst einmal einen gesunden Hund vorfinden, doch irgendwann gelingt es jedem, einen Pfuscher aufzuspüren, der auch dem gesündesten Tier ein schweres Ungleichgewicht der Körperenergien, Verschlammung der Herzlymphen oder eine Übersäuerung der Haarwurzeln diagnostiziert und der Hundehalter seinem Vierbeiner endlich mit Erleichterung das Etikett „krank“ aufkleben und sich entspannt zurücklehnen kann.

Denn endlich hat man den Beweis, dass man als Hundebesitzer nicht bei der Erziehung versagt – oder es gar nicht erst genug versucht hat – sondern, dass der geliebte Vierbeiner einfach nur krank ist und man selbst nie etwas dagegen hätte unternehmen können, um die Entwicklung zu ändern. Denn dass die echte Diagnose in vielen Fällen schlicht und ergreifend lauter: „Gratuliere Frau Müller, ihr Bobby ist eine unerzogene Arschgeige“ möchten Hundehalter nicht hören und wahrhaben.