Sonntag, 9. Oktober 2016

Drei Bücher, ein heißes Thema: Kastration beim Hund



Kaum ein Thema spaltet die Hundewelt so sehr, wie das der Kastration beim Hund. Wer erleben möchte, wie eine Diskussion so richtig eskalieren kann, muss nur dieses eine Schlagwort in die Runde werfen und warten, bis die Extremisten auftauchen und sich gegenseitig an die Kehle gehen.
Aus diesem Grund habe ich mich bei dieser Rezension für eine etwas andere Herangehensweise entschieden.
Derzeit findet der geneigte Hundehalter drei nennenswerte Bücher zu dem Thema auf den Markt. Das älteste Buch stammt von der Tierärztin Dr. Gabriele Niepel und erschien unter dem Titel „Kastration beim Hund – Chancen und Risiken – eine Entscheidungshilfe“ 2007 bei der Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co.KG. Vier Jahre später brachten die Tierärztin Sophie Strodtbeck und Udo Gansloßer, Privatdozent für Zoologie an der Universität Greifswald im Müller Rüschlikon Verlag „Kastration und Verhalten beim Hund“ auf den Markt. Das neueste der drei Bücher „Kastration & Sterilisation beim Hund“ geschrieben von Tierschützerin Clarissa von Reinhardt und Tierarzt Dr. Michael Lehner, erschien 2013 im animal learn Verlag.
Und diese drei möchte ich hier mal im groben Vergleich gegenüberstellen.

Alle drei Bücher setzen sich dasselbe Ziel, sachlich und unvoreingenommen über die Chancen und Risiken einer Kastration beim Hund aufzuklären.  Bereits auf den ersten Blick hebt sich das Buch von Gabriele Niepel etwas ab.  Die beiden neueren Werke sind eher schmal mit 158 und 134 Seiten, dafür zeigen sie ein buntes Innenleben, mit diversen Fotos, farbig unterlegten Tabellen und Illustrationen. Das ältere Buch präsentiert sich wesentlich dezenter, mit nur wenigen Fotos, Diagrammen und Illustrationen in der Mitte des Buches, dafür mit deutlich mehr Text auf 254 Seiten.
Dr. Niepel verarbeitet in ihrem Buch unter anderem die sogenannte Bielefelder Kastrationsstudie, eine Umfrage, die unter 1010 Hundehaltern zu ihren Erfahrungen mit der Kastration und deren Auswirkungen auf den Hund durchgeführt wurde. Niepel stellt die Ergebnisse dieser Studie in Relation zu anderen wissenschaftlichen Studien und diskutiert die Ergebnisse sachlich, warnt jedoch davor, dass viele Punkte der Umfrage auch sehr subjektiv bewertet wurden und man dies bei Ansicht der Ergebnisse immer im Gedächtnis behalten muss. Niepel nimmt sich zu dem viel Raum für eine ausführliche Darstellung von Zyklus der Hündin, Sexualverhalten und Biologie der Hunde. Auch die einzelnen Operationsmethoden, andere Möglichkeiten zur Unfruchtbarmachung der Hunde, deren Vorteile und Risiken und auch die Risiken der Kastration werden eingehend beleuchtet.  Auch zu den meist genannten Kastrationsgründen bezieht Niepel in ihrem Buch ausführlich Stellung. So werden wissenschaftliche Untersuchungen in Hinsicht auf die Gesundheitsvorsorgewirkung der Kastration, der Verhaltensbeeinflussung beim Rüden. Die Frage in wie weit Kastrationen ohne medizinischen Grund durch das Tierschutzgesetz abgedeckt sind, arbeitet Niepel mit Hilfe von Kommentaren zum Gesetzestext auf. So kommt „Kastration beim Hund“ zu dem Schluss, dass durch die Novellierung des § 6 Tierschutzgesetz im Jahre 2000 die Kastration ohne medizinische Indikation in eine rechtliche Grauzone gerutscht ist, so dass die Frage, ob tierschutzrechtlich relevant oder nicht, nicht mehr eindeutig beantwortet werden kann, da die Formulierung des Gesetzes einen sehr großen Interpretationsspielraum lässt. Generell trägt die Autorin eine sehr objektive Haltung zum Thema Kastration nach außen. Wirklich ablehnend äußert sie sich nur gegenüber der Frühkastration.

Ohne eigene Studie gehen Strodtbeck/Gansloßer in ihrem „Kastration und Verhalten beim Hund“ ans Werk. Ihre Beispiele entnehmen sie ihrer beruflichen Praxis als Hundetrainer und Verhaltenstherapeuten. Die Abhandlung der biologischen Grundlagen ist ausführlich und gerade für Anfänger in dem Thema werden die Wirkungen der Hormone und ihre Regelkreisläufe im Organismus sehr detailliert und nachvollziehbar dargestellt.  Wie auch Nippel sprechen sich Strodtbeck/Gansloßer kategorisch gegen die Frühkastration aus. In allen weiteren üblichen Kastrationsgründen gehen sie ausführlich auf die Erfolgsaussichten und mögliche Risiken ein. Auch die Frage nach der Gesundheitsvorsorge durch Kastration wird eingehend behandelt. Selbiges gilt für die gängigen Kastrationsgründe, anhand von diversen Forschungsarbeiten werden bei jeder möglichen Indikation Pro und Contra abgewogen und an individuellen Beispielen verdeutlicht. In der Diskussion rund um das Tierschutzgesetz und Kastrationen beziehen Strodtbeck/Gansloßer ganz deutlich Stellung und bewerten sie ohne akute medizinische oder verhaltenstechnische Indikation als Verstoß gegen das Tierschutzgesetz.  Auch wird in diesem Buch explizit auf Risiken und unerwünschte Nachwirkungen der Kastration eingegangen.  Obwohl das Buch sich um Objektivität bemüht, merkt man beim Lesen immer wieder deutlich, dass die Autoren dem Thema sehr kritisch mit einer eher ablehnenden Tendenz gegenüberstehen.

Ganz anders das neueste Buch zum Thema „Kastration & Sterilisation“ von Lehner/Reinhardt. Bereits im Vorwort wird explizit darauf hingewiesen, dass dieses Buch eine Art Gegenentwurf zum Werk von Strodtbeck/Gansloßer sein soll. Leider wird dieser Gegenentwurf nicht sachlich argumentiert, sondern sehr früh ist deutliche Polemik in der Gegenargumentation zu erkennen und es werden deutliche verbale Attacken gegen die anderen Autoren gestartet. Auch wird zu Beginn des Buches sehr emotional diskutiert und mit weiteren Themenkreisen wie Massentierhaltung, Tötungsstationen und Schicksal von südländischen Straßenhunden Stimmung gemacht, bevor es an die Präsentation der Fakten geht.
Die biologischen Fakten, Zyklus der Hündin, der Hormonhaushalt, die Wirkung der einzelnen Hormone, verschiedene Operationsmethoden und die OP-Nachsorge werden ausführlich vorgestellt. Anders sieht es mit den medizinischen Gründen für die Kastration aus, diese werden sehr schnell und oberflächlich abgehandelt.
Das Herzstück des Buches stellt wie bereits bei Niepel eine eigene Umfrage, in diesem Fall durchgeführt unter 1121 Hundehaltern, rund um ihre Erfahrungen mit der Kastration und ihren Auswirkungen. Anders als bei Nippel werden die Ergebnisse jedoch nicht in Relation gesetzt oder kritisch diskutiert, sondern werden unreflektiert als feststehende Beweise präsentiert.
Im weiteren Verlauf wird kurz auf mögliche Auswirkungen der Kastration eingegangen, wobei sehr auffällig ist, dass die Kastration stets in einem sehr positivem Licht dargestellt wird. Die meisten Risiken und Probleme die bei den vorhergehenden Büchern genannt wurden, werden kurzerhand weggewischt. Besonders auffällig ist dies im Zusammenhang mit der Frühkastration, vor der die anderen Autoren massiv warnen. Lehner/Reinhardt empfehlen sie in ihrem Buch uneingeschränkt für diverse Rassen, um einer zu erwartenden Aggression gegenüber Artgenossen vorzubeugen und verweisen auf die Erfahrungen einer italienischen Tierschützerin, als Referenz, für die Ungefährlichkeit dieses Eingriffs.
Zur Tierschutzfrage wird ebenso eindeutig und gegensätzlich zu früheren Werken Stellung bezogen. Gemäß den Ansichten von Lehner/Reinhardt wird die Kastration, egal in welcher Form, nicht durch das Tierschutzgesetz beschränkt.
Das Buch von Lehner/Reinhardt setzt insofern, wie im Vorwort angekündigt, einen sehr deutlichen Kontrast zu Strodtbeck/Gansloßer, dass die Kastration durch das ganze Buch hinweg nicht wirklich kritisch betrachtet, sondern ausschließlich positiv dargestellt wird. Nach Lektüre des Buches bildet sich beim Leser der Eindruck, als gäbe es aus Sicht der Autoren keinen wirklichen Grund, nicht kastrieren zu lassen. Es werden zwar einige Verhaltensbereiche angesprochen, die durch die Kastration nicht beeinflusst werden, aber da es gemäß „Kastration & Sterilisation beim Hund“ keine negativen Seiten der Kastration zu geben scheint, außer der - angeblich ganz leicht behandelbaren - Inkontinenz bei Hündinnen, ist eine durchgeführte Kastration niemals falsch, egal zu welchem Zeitpunkt und in welchem Alter.
Einen weiteren Unterschied zeigen Lehner/Reinhardt zu den anderen Autoren in der Wahrnehmung der Leser. Während Niepel und Strodtbeck/Gansloßer mit ihren Texten und Erklärungen den Eindruck erwecken, dass sie den Leser als mündigen Bürger wahrnehmen, der zu eigenen Entscheidungen und verantwortungsbewusstem Handeln fähig ist, beschleicht einen bei Lehner/Reinhardt wiederholt das Gefühl, dass dem durchschnittlichen Hundehalter eben genau dies nicht zugetraut wird. Immer wieder wird darauf hingewiesen, wie leichtfertig und inkompetent Hundehalter mit ihren Tieren umgehen und aus diesem Grund die Kastration zur Verhinderung von Trächtigkeiten durchgeführt werden muss. Die Tatsache, dass dies immer wieder und wieder wiederholt wird, hinterlässt einen fahlen Nachgeschmack, fühlt man sich als Leser schließlich nicht ernst genommen.
Befremdlich ist auch, dass wiederholt darauf hingewiesen wird, dass zum Thema Kastration und Auswirkung kaum Studien existieren und gleichzeitig ein 17 Seiten langes Literaturverzeichnis folgt, in dem der interessierte Leser unzählige wissenschaftliche Arbeiten rund um Bereiche aus eben diesem Themengebiet findet.

Drei Bücher, ein Thema, drei teilweise extrem abweichende Meinungen.  Auch wenn es das Älteste aus der Reihe sein mag, so ist Gabriele Niepels „Kastration beim Hund“ deutlich das ausführlichste und objektivste Werk. Ein Wehmutstropfen ist, dass der Kastrationschip und seine Anwendung in diesem Buch nicht zur Sprache kommen, da er bei dessen Erscheinen noch nicht auf dem Markt war. Strodtbeck/Gansloßers „Kastration und Verhalten beim Hund“ bemüht sich um Objektivität, allerdings gelingt es dem sonst gut geschriebenen Buch nicht immer so, dass man an einigen Stellen die deutlich kritische Tendenz bemerken kann. Dennoch ist das Buch zum Einstieg in die Thematik gerade in Hinsicht auf die Funktion der Hormone im Körper gut geeignet.  Keine Empfehlung kann es hingegen für „Kastration & Sterilisation beim Hund“ von Lehner/Reinhardt geben. Zu sehr ist man bemüht, das Vorgängerwerk anzugreifen und zu widerlegen und auch von einer sachlichen Diskussion des Themas ist man zu oft weit entfernt und verlegt sich auf emotionale Argumente.

Um es kurz zu sagen:
Wer sich in erster Linie zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Kastration informieren möchte, sollte das Buch von Dr. Niepel kaufen.
Wer sich in erster Linie zu den charakterlichen Auswirkungen der Kastration informieren möchte, sollte das Buch von Strodtbeck und Gansloßer kaufen.
Wer seinen Hund kastrieren lassen will und nur noch einmal lesen möchte, dass er auf jeden Fall das richtige macht, ohne viel nachdenken zu müssen, sollte das Buch von Reinhardt und Lehner kaufen.


Als nächstes auf der Leseliste:
Gabrielle Brunner Scheidegger – „Gesunder Sport- und Diensthund“