Donnerstag, 28. Dezember 2017

Barbara Ertel & Sandra W. Wichers – Der Verständigungsschlüssel zum Hund



Unser 19. Buch.

Eines vorweg, es ist extrem schwer, nein es ist unmöglich, unvoreingenommen an dieses Buch heranzugehen. Ich war komplett überrascht, dass meiner Anfrage nach einem Rezensionsexemplar wirklich nachgekommen wurde, aber mit dem Wissen welches Leid die Lehre rund um die vererbte Rudelstellung in der Hundewelt bereits ausgelöst hat, möchte ich hier von vornherein darauf hinweisen, dass die Lektüre und Rezension dieses Buches rein dazu diente, die Argumentation und Gedankengänge dahinter besser verstehen zu können, um die Chance zu erhöhen, dass man bei künftigen Begegnungen mit Interessenten dieser „Theorie“ besser gewappnet ist, mit zielgerichteter Argumentation möglichst viele davor bewahren zu können, mit ihrem Hund diesen Irrweg einzuschlagen.

Schon die Einführung, in der die Autorin erklärt, woher ihr Wissen stammt, wirkt befremdlich. Das blutjunge Mädchen, das eigentlich nur einen Hund bein einem älteren Mann kaufen will und ihn letztlich erst einmal begleiten und seine „Kunst“ erlernen muss, klingt im besten Fall eigenartig. Es stellt sich auch die Frage, wie die Autorin ihren Lebensunterhalt bestritten hat, wenn sie ein Jahr lang mit Herrn Werner durch ganz Deutschland gereist ist, um 60 Würfe über mehrere Tage zu beobachten. Zumal man sich auch wundert, wieso der große Meister sein Geheimwissen nur an dieses fremde Mädchen, zu dem er keinerlei Verbindungen hatte, weitergab. Egal, es ist eine schöne Story von der einen Auserwählten, wie man sie aus der modernen Literatur zur Genüge kennt und von der man weiß, dass Leser sie lieben.

Im Anschluss erklärt die Autorin, den Aufbau des strukturierten Rudels mit allen sieben Stellungen innerhalb des Rudels und auch, dass die Hunde sich bei Wanderungen nur entsprechend ihrer Stellungen aufreihen. Fehlt die Struktur im Rudel, so die Behauptung, würde man das bereits an der Formation beim Laufen erkennen Solche unstrukturierten Rudel müssten unbedingt vermieden werden, weil sie Stress und Aggression in der Gruppe fördern. Das größte Probleme der modernen Hundehaltung sei, dass dies nicht erkannt werde.
Es wird kein ernstzunehmender Gedanke daran verschwendet, wieso die Verhaltensbiologie und der Rest der Welt die unumstößlich angeborene Geburtsstellung nie thematisiert haben. Man ist felsenfest überzeugt, das Ei des Kolumbus Mitte des 20. Jahrhunderts in einer Gartenlaube gefunden zu haben.
Im Anschluss wird kurz auf die verschiedenen Stellungen innerhalb des Rudels und deren Unterschiede eingegangen. Der Leser wird mit verschiedenen Leit- und Bindehunden bekannt gemacht, für jede Stellung gibt es dazu eine eingängige Abkürzung. Die Stellung sei angeboren, würde sich wie Rasse und Geschlecht ein Leben lang nicht wirklich ändern bzw. ändern lassen und dem Hund von der ersten bis zur letzten Sekunde festlegen, welche Aufgaben dieser Hund übernehmen kann und soll. Man ist der felsenfesten Überzeugung, dass Rasse, Geschlecht und Individualität hinter die Geburtsstellung in der Bedeutung zurücktreten. Alles egal, alles kann vernachlässigt werden, so lange man nur die Stellung des Hundes kennt und respektiert.
Das Erkennen und Einordnen der einzelnen Stellungen wird im Anschluss behandelt und es wird gleich von Anfang an klargemacht, dass es hier große Schwierigkeiten geben kann. Zusammengefasst kann man eigentlich sagen, dass man, diese schwierige Aufgabe am Besten auf einem kostenpflichtigen Seminar einem „Profi“ überlässt. Im Anschluss erhält jeder Hundetyp eine kurze Erklärung, welche Charaktereigenschaften sich aus seinen Aufgaben im Rudel ergeben, wie man als Mensch damit umgehen muss, mit einem solchen Hund zusammenzuleben und welche – meist negativen – Auswirkungen es hat, wenn diese Vorgaben nicht berücksichtigt werden.
Es folgen vier Seiten verwackelte Fotos auf denen Treffen von Hunden zu sehen sein sollen, die sich gegenseitig korrekt in ihrer Stellung identifizieren.
Doch die Unterscheidung in sieben Stellungen reicht noch nicht, die Autorin hat, abweichend von den Lehren ihres Meisters, noch zusätzlich sechs weitere Einteilungen „erarbeitet“, die beschreiben, wie eindeutig die Stellungen ausgeprägt sein sollen. Spätestens an diesem Punkt schwirrt dem Leser der Kopf.

Es folgen eine Menge Anmerkungen zum alltäglichen Leben mit Hunden aus denen eine Behauptung besonders hervorsticht. So wird den Hunden die Anpassungsfähigkeit und Flexibilität abgesprochen. Laut Frau Ertel handelt es sich bei den beobachteten Anpassungen nur um eine Kompensationsstrategie, gleichsam einer Zwangsstörung zur Trauma Bewältigung, wenn die Tiere nicht entsprechend ihrer Rudelstellung leben können. Die Rede ist von großem seelischen Leid und Qualen, die ein solches Leben den Hunden bereitet, die ihnen der Profi auch ansieht, die nur vom Halter zu oft übersehen werden. Man packt die Hundehalter dort wo es wirklich schmerzt, nämlich beim Vorwurf man würde den geliebten Vierbeiner leiden lassen und dieses Leid auch noch selbst verursachen.
Auch bei Ausbildung, Sport und Beschäftigung muss man selbstverständlich auf die Rudelstellung achten. Bestimmte Stellungen eignen sich für bestimmte Aufgaben, die Rasse ist hierbei mal wieder Nebensache. Nach dieser Logik ist der V3 oder N3 Golden Retriever IMMER der bessere Personenschutzhund als der V2 oder N2 Rottweiler, während Eckhunde offensichtlich gar nicht ausgebildet werden können/sollen, an ihnen soll man sich einfach an ihrem Charakter erfreuen. Eine hervorragende Ausrede für jeden unerzogenen Hund.
Was folgt ist nochmal eine Aufschlüsselung der einzelnen Stellungen und worauf man bei ihrer Erziehung achten muss, wer sich für Einzelhaltung eignet, wer unbedingt einen oder mehrere andere Hunde im Haushalt benötigt, wie man Paar- und Mehrhundehaltung bis zum Teilrudel oder kompletten Rudel aufbaut, wie man Fehlstellungen vermeidet und „Lücken“ füllt, wieso es bei Senioren noch wichtiger ist, auf bestimmte Dinge zu achten und wie man mit verhaltensauffälligen Hunden umzugehen hat.
Wieder ein Satz verwackelter Fotos und dann geht es an die Königsdisziplin: Zucht und Zuchtbeurteilung nach Rudelstellung.
Gesund und glücklich und vor allem „normal“ können Hunde nur werden, wenn sie bereits vom ersten Tag an in ihrer angeborenen Stellung „professionalisiert“ werden. Es wird in drei Kategorien aufgeteilt. Ein Wurf kann perfekt, akzeptabel oder nicht akzeptabel sein.
Im perfekten Wurf sieht die Autorin sieben Welpen mit unterschiedlicher Stellung, dies wirke sich nicht nur ideal auf den Charakter, sondern auch auf die körperliche Gesundheit aus. Im akzeptablen Wurf fehlen Stellungen, aber nie der mittlere Bindehund, weil dieser dafür sorgt, dass die fehlende Stellung durch andere kompensiert wird. Alle anderen Würfe werden als „nicht akzeptabel“ eingestuft, sprich jeder Wurf mit mehr als sieben Welpen ist nach Wertung der Autorin eine Katastrophe, die keine Chance auf eine unauffällige Entwicklung haben und stets Verhaltensauffälligkeiten entwickeln würden. Mutterhündinnen die „stellungsstark“ seien, würden solche Würfe „reparieren“ oder auch „komplett vernichten“. Eine Ansicht, bei dem es jedem kalt den Rücken runterläuft. Eine Hündin, die die eigenen Welpen tot beißt, sobald es mehr als sieben sind, ist also offensichtlich in der Welt der Rudelstellung ein erstrebenswertes Ziel.
Fortpflanzen sollten sich ohnehin nur bestimmte Stellungen, was sich angeblich im kompletten Rudel automatisch und selbstverständlich ergeben würde und automatisch dazu führt, dass nur perfekte Würfe fallen. Auch die Ordnung in der Wurfkiste sei essentiell für die Entwicklung der Welpen, so dürfe man die Welpen nicht umlegen, um die Stellungen nicht zu verwirren und die Entwicklung nicht zu gefährden. Hier drängt sich die Frage auf, wie das örtliche verschieben der Welpen auf den zwei Quadratmetern einer Wurfkiste so großen Einfluss haben kann, dass es die genetische Veranlagung stören kann, aber darauf wird selbstverständlich nicht eingegangen.
Spannend sind auch die Ausführungen zu Fehlentwicklungen in „nicht akzeptablen“ Würfen. So gäbe es angeblich in natürlich strukturierten Verbänden, niemals Mehrfachbesatz. Die Biologie erkennt automatisch, wenn sich Vorderer Leithund und Mittlerer Bindehund verpaaren und begrenzt die Welpenzahl automatisch auf sieben. Laut Ertel krankt die moderne Hundezucht in erster Linie daran, dass IMMER der falsche Deckrüde gewählt wird, weil sich der VLH weder als guter Familienbegleithund noch als Arbeitshund eignet. In der Welt der Rudelstellung ist die natürliche Selektion und Vererbungslehre offensichtlich ein Märchen. Gezüchtet werden soll nicht mit Hunden, die die Eigenschaften aufweisen, die man erhalten will, sondern nur anhand der beim schlafenden Welpen zugeordneten Stellungen, um stets körperlich und geistig gesunde siebener Würfe zu produzieren vom Chihuahua bis zur Deutschen Dogge…
Den Abschluss bilden wieder zwei Blöcke verwackelte Fotos, die irgendetwas von dem geschriebenen verdeutlichen sollen, eine Zusammenfassung, was die Autorin bereits erreicht hat und was sie mit ihrem Verein noch erreichen will, eine Danksagung einer Züchterin, die zu meinem großen Entsetzen im VDH züchtet, Adressen für alle, die sich mehr mit dem Thema auseinandersetzen wollen und nochmal ein Glossar mit einer Kurzerklärung der „wichtigsten“ Begriffe.

Nach 198 Seiten mit übertrieben großem Schriftbild, 119 teils extrem verwackelten Beweisfotos und einer Hand voll Diagrammen dreht sich alles, vor allem weil einem vom andauernden Kopfschütteln mit der Zeit schwindelig geworden ist. Ich hatte erhofft im „Verständigungsschlüssel“ wenigstens ansatzweise eine Erklärung dafür zu finden, wieso immer wieder Hundehalter dieser Philosophie folgen, selbst solche von denen man mehr erwarten würde. Es bleibt unbegreiflich, wie ein Züchter, der auch nur ein einziges Basisseminar in Zucht und Genetik besucht hat, irgendetwas davon glauben kann. Wer sich nie mit der Thematik Hund, Rassen und Charakterbildung auseinandergesetzt hat, könnte an der ein oder anderen Stelle ins Netz gehen, doch spätestens beim Thema „Zucht“ sollte der gesunde Menschenverstand ausreichen, um sehr, sehr skeptisch zu werden und das selbst dann, wenn man der Autorin nicht zufällig früher auf einer großen Online Plattform begegnet ist, zu einer Zeit, in der sie sich offenbar temporär der Lehren ihres Meisters nicht mehr bewusst war.

Das Buch ist ein erschreckendes Zeugnis, wie vehement man echte wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen kann und wie schnell man Menschen einwickeln und verführen kann, wenn man nur genug von sich selbst überzeugt zu sein scheint, die Leute auf der emotionalen Breitseite erwischt („DU bist schuld, dass dein Hund seelische Höllenqualen leidet!“) und gleichzeitig eine vermeintlich einfache Lösung parat hält.

Ich hoffe, das nächste Buch auf meiner Leseliste wird mich nicht derart entsetzen und mich nicht erschüttert und fassungslos zurücklassen:

Klaus Glöckner: „Der gewaltfreie Weg zum Verbellen“