Man hört und liest es immer wieder nachdem ein Beißvorfall passiert ist: Nie habe man damit gerechnet, nie habe der Hund irgendwelche Anzeichen gezeigt, dass er so reagieren könnte. Vollkommen unangekündigt und aus dem Nichts heraus sei es passiert. Und dann hat man in der heutigen Zeit so gut wie immer ein halbes dutzend „lustige“ oder auch „niedliche“ Kurzvideos von den Hunden, in denen gezeigt werden soll, wie fröhlich der Hund immer war, wie lieb der Hund immer war. Die Besitzer erklären einem, was sie dort sehen. Hunde, die sich ja so wahnsinnig freuen würden, Hunde die ganz sanft und geduldig seien, bis zu dem Tag an dem sie es plötzlich nicht mehr waren. Was der geneigte Betrachter mit etwas Hundeverstand jedoch sieht, sind Hunde bei denen aus der Pore, aus jeder Haarspitze Stress trieft.
Die Hunde kommunizieren klar und deutlich, warnen teilweise Wochen und Monate lang, bevor sie eskalieren und dennoch hört man immer wieder dieselben alten Geschichten. Es ist traurig und erschrecken, dass immer noch so wenige Hundehalter – selbst oftmals jene mit vielen Jahren Erfahrungen – an dieser Stelle so blind sind und alle Frühwarnzeichen übersehen.
Es gibt vier Standardreaktionen auf Stresssituationen, im englischsprachigen Raum ist von den vier F’s die Rede. Die ersten beiden erkennt so gut wie jeder Mensch, auch jene, die nichts oder nicht viel mit Hunden und ihrer Körpersprache am Hut haben. Fight und Flight, Kampf und Flucht versteht jeder.
Ein Hund, der in Stresssituationen beginnt, zu knurren, die Zähne zu fletschen und gar abzuschnappen, wird verstanden. Egal, wer ihm gegenübersteht, die Nachricht, dass dem Hund das gerade nicht behagt, kommt deutlich an. Was immer noch nicht bedeutet, dass das Gegenüber sich in der Situation richtig verhält und korrekt auf die Aussage des Hundes reagiert, aber zumindest begreift es, dass Hund das, was gerade passiert, nicht will.
Auch bei Flight erkennen die meisten Leute noch, was da vor sich geht. Selten nur wird ein Hund, der in Panik flieht oder es wenigstens versucht, mit etwas anderem verwechselt.
Wenn Hunde aus einer dieser beiden Situationen heraus zu beißen, spricht niemand von „unerwartet“ oder „ohne Vorwarnung“. Aggression und Flucht werden als Warnzeichen erkannt. Anders sieht es da bei den letzten beiden Stressreaktionen aus, bei den beiden vergessenen oder einfach nur verkannten F’s. Fiddle und Freeze, herumalbern und erstarren sind die Anzeichen, die nur zu gern übersehen werden.
Der Hund rennt seit zehn Minuten wie von der Tarantel gestochen durch den Garten, springt an jedem hoch, wedelt mit dem ganzen geduckten Körper, versuchst exzessiv über Hände und Gesichter zu lecken und lässt sich gar nicht beruhigen? Ist doch glasklar, der Hund freut sich. Ebenso freut er sich und bezeugt seine Liebe, wenn er dem Kind, das ihn ständig bedrängt, verfolgt und einfach nicht in Ruhe lässt, unaufhörlich übers Gesicht leckt. Packt Hund dann an Tag X letztendlich die Zähne aus, ist die Verwunderung groß. Er hat doch immer so lieb „Küsschen“ gegeben und war dem Kind gegenüber nie aggressiv. Beim Fiddeln ist es fast am Schwierigsten, den Menschen begreifbar zu machen, dass das eben keine Freude ist, keine Liebesbekundung, sondern ein Ausdruck von purem Stress. Nur wenigen gelingt es, von dem Bild des wuselnden und wedelnden Hundes auf Stress zu schließen und leider lassen sich auch nur wenige durch Aufklärung davon überzeugen. Zum Glück dieser Hundehalter – und zum Leidwesen der Hunde – verharren viele Hunde ein Leben lang in dieser Stressreaktion und es kommt nie zu einem Vorfall, weil die Hunde ihre Strategie nicht wechseln. Glück für die Menschen, weil sie so, trotz ihrer eigenen Rücksichts- und Ahnungslosigkeit nicht Gefahr laufen verletzt zu werden. Leidwesen des Hundes, weil niemals auf sein Dasein im ständigen Stress Rücksicht genommen werden wird, da es niemand erkennt.
Nicht besser sieht es beim Freeze aus. Hunde, die vor Stress erstarren, einfach einfrieren in dem was sie gerade tun und ausharren, bis die Situation vorüber ist, werden oftmals nicht als gestresst, sondern als „sanft“ oder „duldsam“ wahrgenommen. Sie wehren sich nicht, sie versuchen nicht, sich zu entziehen, also ist das, was immer man auch gerade mit ihnen macht, nicht so schlimm für den Hund. Wie schon beim Fiddeln kann der Hund hier nur wenig Rücksicht erwarten. Freeze ist die passivste Reaktion auf Stress, möglicherweise macht es dieses Fehlen einer Aktion für viele Menschen so schwer, Freeze als das zu erkennen, was es ist. Der Weg zum Fight scheint von der Freeze Reaktion schneller und öfter von Statten zu gehen, als beim Fiddeln. Gerade hier hört man dann oft die überraschten Aussagen von fehlender Vorwarnung und ohne vorheriges Anzeichen gestarteten Attacken.
Viele Vorfälle ließen sich vermeiden, wenn die beiden vergessenen F’s mehr Hundehaltern bekannt wären. Wenn man sich mehr mit dem Thema der Körpersprache der Hunde beschäftigen würde, lernen, wie man seinen Hund besser versteht, seine Bedürfnisse erkennt und auch auf sie eingeht. Doch so lange man bei der Erwähnung von Fiddle und Freeze in fragende, verständnislose Gesichter blickt, gibt es noch viel Raum für traurige Zwischenfälle, die nur darauf warten zu passieren, weil ein missverstandener Hund vor Stress irgendwann keinen Ausweg mehr sieht, als sein Vorgehen dramatisch zu ändern.
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