Es ist in aller Munde, das Thema Natürlichkeit und
Naturnähe und auch der Hund wird davon in keiner seiner Lebenssituationen
verschont. Alles muss natürlich sein, angefangen bei der Erziehung über die
Fütterung bis hin zur allgemeinen Haltung und auch sonst alles. Doch sieht man
sich so um, fragt man sich immer wieder, welche Vorstellung von der Natur des
Hundes manche Leute haben.
Bereits vor der Geburt des Hundes beginnen oftmals die
bizarren Blüten zu sprießen, die die moderne Mensch-Hund-Beziehung treibt.
Statt Wurfplanungen und Deckakten werden „Hochzeiten“ angekündigt und bei
problemlosen und instinktsicheren Deckakten ist plötzlich von „Liebe auf den
ersten Blick“ die Rede und Rüden, die im Testosteronrausch Interesse an der
läufigen Hündin haben, haben plötzlich „Herzchen in den Augen“ bei ihrem
Anblick. Von der Natur des Hundes, von Sexualtrieb und Hormonen fehlt jede
Spur. Erstlingshündinnen verlieren in jüngster Zeit auch mal gerne ihre
„Unschuld“ und der geneigte Leser kommt sich schnell vor, wie in einer billigen
Seifenoper. Eine Entwicklung, die sich nicht nur bei den Kleinhunderassen
zeigt, selbst bei Gebrauchshundezüchtern haben die Zuchthunde immer öfter ein
„Date mit der großen Liebe“ statt einem Decktermin und erwarten dann nicht
einfach nur einen schnöden Wurf, sondern selbstverständlich „Kinder der Liebe“.
Es versteht sich auch von selbst, dass man diese besonderen Wesen auf keinen
Fall kaufen kann, aber sie können gegen einen passenden Betrag jederzeit „adoptiert“
werden.
Weiter geht es in den neuen Familien. Herrchen und
Frauchen oder gar „Besitzer“ schimpfen sich die Wenigsten in diesen Tagen. Wie
im englischen Sprachraum schon lange gebräuchlich, ist man jetzt „Mami und Papi“
des neuen „Fellkindes“, das man mit viel Liebe und Verständnis erziehen wird.
Damit der Nachwuchs auch glücklich und ausgelastet ist, wird er sofort in den
Welpenkindergarten eingeschrieben und man macht sich auf die Suche nach
Gleichaltrigen für Spieltreffen, denn das Rudeltier Hund (obwohl man das Wort „Tier“
im Zusammenhang mit seinem neuen Nachwuchs nicht so gerne benutzt) braucht
Kontakt um glücklich zu sein. Außerdem hat man gelesen, dass Förderung wichtig
ist.
Also geht man los und kauft sich einen Clicker und
beginnt schon am zweiten Tag nach dem Einzug mit süßen Tricks. Der Welpe weiß
noch nicht, wo sein Futternapf steht und dass dieses neue Gebäude in das man
ihn nach der Autofahrt gesetzt hat, sein Zuhause sein wird, von größeren Dingen
wie Stubenreinheit, Alleinsein und Leinenführigkeit noch nicht einmal zu reden,
aber es ist wichtig, dass er spätestens nach vier Tagen auf den Clicker
reagiert und nach einer Woche ganz niedlich Pfötchen geben kann. Ebenfalls am
zweiten Tag geht es auf den ersten großen Spaziergang, denn Bewegung ist
natürlich und notwendig. An dieser Stelle verzweifeln die ersten Hundebesitzer
bereist und mutmaßen, ob ihr Züchter nicht doch ein Scharlatan war, der ihnen
einen schlecht sozialisierten Welpen verkauft hat. Denn das vierbeinige Kind
weigert sich nicht selten an der Leine hinaus in die große weite Welt zu
laufen.
Um dieser erschreckenden Entwicklung entgegenzuwirken,
geht es am nächsten Tag gleich in den Welpenkindergarten oder zum Welpenspielen
in die Hundeschule. Zehn sich vollkommen fremde Welpen, die
durcheinanderkugeln, versuchen sich in dieser einen Stunde irgendwie zu
sortieren und herauszufinden, wer stärker ist, wen man ungestraft drangsalieren
kann… oh Moment, ich vergaß, Welpen sind liebe kleine Wesen, die nur hübsch
zusammenspielen und selbst wenn vier Jagdhundwelpen gemeinsam einen kleinen
Aussie über den Platz hetzen, bis sie ihn schließlich in eine Ecke getrieben
haben, ist das immer nur ein nettes Spiel, das alle Beteiligten genießen. Denn
wie wir ja alle wissen, ist der und von Natur aus ein Rudeltier. Dasselbe Bild
ergibt sich auf der Hundewiese, nur in anderer Besetzung und oftmals ist dann
hier das eigene Fellkind das Ziel der gemeinschaftlichen Jagd. Aber das gehört
alles zum Spiel und ist ganz natürlich.
Die Zeit vergeht und der liebevoll, natürlich aufgezogene
Welpe aus dem Liebesabenteuer zweier Hunde ist bald ein Jahr alt, immer noch
nicht zuverlässig stubenrein, kann nicht alleine bleiben, ohne die Wohnung zu
demolieren oder die Nachbarschaft zusammenzukreischen, dreht bei
Hundebegegnungen draußen durch und springt schreiend in die Leine, hat ständig
Durchfall und beginnt sich seit Neuestem das Fell von den Vorderpfoten zu
beißen und draußen Müll und Kot zu fressen.
Dabei hat man sich auch bei der Fütterung immer an der
Natur des Hundes orientiert. Man hat keine Kosten und Mühen gescheut, teure
Markenfutter mit natürlichen Inhaltsstoffen gekauft und besonders solche, die
doch auf Wildnis und ganz natürliche, gesunde Zutaten wertlegen. Als das nichts
half, gab es rohes Futter und auch da nur das Beste, schönes Muskelfleisch und
tolle große Beinknochen zum Abnagen und am Ende hat man sogar gekocht. Die
wunderbaren Rezepte aus diversen Büchern und von verschiedenen Internetseiten.
Ganz natürlich mit Kartoffelpüree und Honigtoast zum Frühstück.
Weil der Hund die Wohnung aus Langeweile kaputt macht,
wurde für besseres Alleinbleiben das Auslastungsprogramm hochgefahren.
Hundewiese musste leider gestrichen werden, weil die anderen unwissenden
Hundehalter die Natur des Hundes nicht verstehen und behaupteten, der Hund
würde andere mobben und mit Anzeige drohten, wenn der Hund nochmals einen
anderen zu einem Rennspiel bis an den Horizont ermutigt und ihn dort, wenn er
ihn eingeholt hat, ein wenig in den Nacken zwickt. Es kann schon mal passieren,
dass sie wilder spielen und der andere genäht werden muss. Man versteht gar
nicht, wieso die anderen sich über einen solch natürlichen Vorgang so aufregen.
Außerdem muss man vorsichtig sein, es gibt zu viele gestörte Hunde in der
Gegend. So wie der Rottweiler, der das eigene Fellkind letztes Mal gleich ganz
böse Knurrend zu Boden gedrückt hat, als es zu ihm gerannt ist und spielen
wollte. Hunde spielen nun einmal körperlich und ein kleiner Rempler darf nicht
solch unangebrachte Aggression auslösen.
Also sucht man sich eine Hundeschule mit breitem Angebot.
Montags ist jetzt Obidience angesagt, Dienstag und Donnerstag ist Aufbau Kurs
Agility, Mittwoch wird longiert und Freitag gibt es eine Stunde Tricktraining
mit dem Clicker. Am Wochenende sind lange Rad- und Wandertouren angesagt, denn
es liegt in der Natur des Hundes ein großes Bewegungsbedürfnis zu haben.
Hilft alles nicht, der Hund versucht sich immer noch
durch die Haustür zu fressen, wenn er alleine zu Hause ist und auch der zehnte
Futterwechsel hat nichts gebracht, es fließen immer noch große stinkende
Hundehaufen über den Teppich und langsam ist das Fell von den Pfoten weg und
der Hund beginnt sich die Haut wund zu lecken.
Bestimmt eine Futtermittelallergie, die auch das seltsame
Verhalten erklärt. Also auf in den nächsten Tierladen und ein Allergiker geeignetes
Futter gekauft. Pferd und Kartoffel klingt so herzlos, arme kleine Ponys
sollten nicht verfüttert werden, deshalb gibt es jetzt Känguru mit Pastinake
und Yucca-Extrakt. Vielleicht sollte man aber auch mal eine vegane Alternative
versuchen oder auf Käferprotein zurückgreifen, wesentlich naturnaher als
Fleisch aus Massentierhaltung. Dazu lässt man zur Sicherheit beim Tierarzt
einen Allergietest machen. Ein seltsamer Mensch im Wartezimmer meint, nachdem
man ihm die ganze traurige Geschichte erzählt hat, dass auch Stress die Ursache
sein könnte. Darüber lohnt es sich nicht nachzudenken. Immerhin hat mal alles richtiggemacht
und sich an die natürlichen Bedürfnisse seines Hundes gehalten…
Und an dieser Stelle schließt sich meist ein langer
Leidensweg für Hund und Halter an, den nur wenige wieder verlassen. Manchmal
wird dem ein Ende gesetzt, in dem der Hund abgegeben wird, doch oftmals quält
man sich Jahrelang gemeinsam durch die eigene, verschobene Vorstellung von der
Natur des Hundes. Vieles wird unter dem Etikett der „Natürlichkeit“ und „Ursprünglichkeit“
vermarktet und ist davon doch meilenweit entfernt. Es beginnt bei den Abläufen
der Fortpflanzung über die Aufzucht, das Verhalten und die Dinge, die ein Hund
körperlich, geistig und sozial wirklich benötigt.
Gern wird sich über Schleifchen, Hundehalsbänder in
modernen Designs und kunstvolle Frisuren beschwert und die „Unnatürlichkeit“
dieser Accessoires beklagt. Dabei wird jedoch vollkommen ausgeblendet, dass die
Fehlinterpretation der natürlichen Bedürfnisse wesentlich größeren Schaden
anrichten, als ein Continental Clip beim Pudel. Gerade die Thematik des
gesunden Sozialverhaltens hat eine geradezu perverse Verdrehung in den letzten
Jahren erfahren. Hunde die fremden Artgenossen reserviert gegenübertreten und
ihre Grenzen klar kommunizieren, werden als aggressiv und schlecht sozialisiert
abgestempelt, während der distanzlose Hund, der jegliche körpersprachliche
Bitte um Abstand und auch jede Drohung missachtet, immer öfter als das erstrebenswerte
Ideal gesehen wird.
Nie zuvor wurde die Natur des Hundes so oft als Begründung
angeführt und nie zuvor wurde die wahre Natur so mit Füßen getreten. Deshalb
sollte man sich, bevor man sich einmal mehr auf die Natur des Hundes beruft,
einmal hinsetzen, in sich gehen und sich ehrlich fragen, ob man überhaupt weiß,
was das bedeutet. Man lebt nicht mit seinem adoptierten Fellkind aus einer
romantischen Affäre zweier auf den ersten Blick verliebten Hunde zusammen,
sondern mit einem domestizierten Raubtier, das im Rudelverband lebt.
Viel Spaß dabei, herauszufinden, was das für das Zusammenleben
jenseits der rosaroten Werbetraumwelt wirklich bedeutet.