Sonntag, 5. November 2017

Der Untergang der Aufklärung






Immanuel Kant definierte Aufklärung als Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Als Unmündigkeit sah er, das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen und „selbstverschuldet“, dass es nicht aus Mangel des Verstandes, sondern der Entscheidung und des Muts lag, dass man nicht wagte ohne Anleitung eines Fremden den eigenen Verstand zu nutzen. Für den Großteil der Menschheit fand die Ära der Aufklärung im 17./18. Jahrhundert statt. Bei Hundehaltern hat man derzeit mehr denn je den Eindruck, dass dieser Zeitpunkt erst noch bevorsteht.

Nach eigenem Wissen und Gewissen zu entscheiden, ist unter immer mehr Hundehaltern offensichtlich verpönt. Es wird streng nach Plan und nach Methode gearbeitet, nur keinen Schritt vom vorgegebenen Weg abweichen, sonst kommt es zu einer Katastrophe, schlimmer als das Versinken von Atlantis oder den Feuern von Pompeji. Wie genau diese Katastrophe aussehen soll, darin ist man sich nicht einig. Manche sprechen von Vertrauensverlust, andere sehen ein unheilbares Trauma über ihrem Hund aufziehen. Einig ist man sich nur darin, dass man keine eigenhändigen Versuche in der Erziehung starten sollte, sondern sich immer auf das Wort seines Trainers, der nach der neuesten wissenschaftlichen, gewaltfreien und absolut anti-aversiven Methode arbeitet, verlassen und zwar buchstäblich.
Bauchgefühl ist trügerisch und gefährlich, denn der gemeine Hundehalter hat nicht das umfassende Wissen, es richtig zu eichen und zu erkennen, wann es einem Unsinn eingibt. Sagt einem das Bauchgefühl also, man sollte den Hund, der gerade auf den Tisch gesprungen ist und den Sonntagsbraten fressen will, einfach mit einem Brüller vom Tisch schubsen, sollte man nie darauf hören, wenn der Hundetrainer geraten hat, gewaltfrei ein positives Ersatzverhalten zu konditionieren. Denn körperliches Einwirken auf den Hund ist böse und darf niemals unter keinen Umständen je eingesetzt werden, sonst kommt es ganz schnell zur großen Katastrophe.

Es beginnt schon früh, in den ersten Lebenstagen und Wochen. Wenn sich der Züchter nicht an den strengen Sozialisierungsplan und die Frühförderung hält, die führende Experten im Labor entwickelt haben, kann man den Wurf eigentlich schon eingraben oder unter großer Warnung an sehr erfahrene Hundehalter vermitteln, die dann versuchen dürfen, diese massiven Fehler in der Welpenzeit mit straffen und minutiös durchstrukturierten Trainingsplänen wieder halbwegs abzupuffern.
Denn mit normalem Welpenverhalten, wie Sachen anknabbern, nicht stubenrein sein, Menschen anspringen oder einfach mal wie von der Hornisse gestochen sinnlos durch die Gegend fetzen, sollte sich niemand mehr auseinandersetzen sollen, da sollte der Züchter bereits durch ausgeklügelte Welpenfüherziehung genügend Vorarbeit geleistet haben. Verständlich, dass sich schnell der Welpenblues beim Hundekäufer einstellt und einem das ganze über den Kopf wächst, wenn man das Pech hat, einen Welpen von einem verantwortungslosen Züchter zu bekommen, der die Hunde ganze einfach in Haus und Garten mit Familienanschluss, ohne besondere Förderung, Prägespiele und großes Programm aufgezogen hat.

Glaubt man den modernen Hundetrainern gibt es im Leben des Hundes keinen Spielraum mehr für das Austesten von Methoden und das Korrigieren des gemeinsamen Weges. Ihre Vorstellung ist bestimmt von vielen Geboten und noch mehr Verboten und alle scheinen absolut zu sein. Es gibt keine Palette an Möglichkeiten, die man je nach Individuum anpassen und variieren kann. Es gibt nur eine Liste, die man erfüllen muss und eine noch längere Liste, die man unter keinen Umständen niemals nicht machen darf, weil sonst – wir erinnern uns – die große Katastrophe droht. Im Alltag stolpert der Hundehalter von einem „du musst immer…“ zum nächsten „du darfst auf keinen Fall…“ und vertraut blind, dass ihn der Trainer auf sichere Pfade und zum Erfolg führt. Auch nach jahrelangen Rückschlägen und sich potenzierenden Problemen wagen es die wenigsten, die Methode zu hinterfragen oder gar zu zweifeln und eine Entscheidung aus dem Bauch heraus zu treffen.
Passiert es doch einmal im Affekt, wird sofort auf diversen Wegen Hilfe gesucht und um Absolution für die Tat gebeten. Geht der Trainer nicht ans Handy und beantwortet WhatsApp und Email nicht, flüchtet man ins nächste Internetforum oder zur verständnisvollen Facebook Gruppe. Es liest sich dann wie folgt:
„Hilfe, heute Morgen ist mir etwas ganz Schlimmes passiert!!!11! Ich habe Angst, dass mein Fido das Vertrauen in mich für immer verloren hat. Wir wollten Gassigehen und Fido ist an der Tür bellend hochgesprungen. Meine Trainerin sagt, ich soll das ignorieren und warten bis er leise ist. Heute hat er sich dabei umgedreht und mich angesprungen und aus Schreck habe ich ihn weggeschubst und ‚nein‘ gerufen. Meine Trainerin hat gesagt, ich soll ihn niemals körperlich maßregeln, weil das ganz schlecht ist. Was soll ich jetzt tun?“
Man würde erwarten, dass auf seine eine Anfrage amüsiertes Kopfschütteln erfolgt. Doch meist ergehen detaillierte Beschreibungen zur Sicherung der Bindung und des Vertrauens und der Rat zu warten, bis sich die Trainerin meldet, um nicht noch größere Schäden anzurichten.

Und während man selbst sich dabei ertappt, im Kopf durchzuzählen bei welchem Plan man selbst gerade bei den einzelnen Erziehungs- und Ausbildungsteilen ist – ich glaube ich schwanke je nach Hund und Aufgabenbereich zwischen Plan C und Plan L – sieht man den anderen zu, wie sie sich mit Gewalt an Plan A klammern, den eigenen Verstand und das Bauchgefühl hinter einer dicken Wand einmauern und fragt sich, ob die Sonne der Aufklärung erst noch über den Hundehaltern aufgehen muss, oder ob sie bereits untergegangen ist und sich nur noch die letzten von uns am alten Wissen festklammern und die Zukunft der Hundehaltung wirklich nur noch aus „ihr müsst auf jeden Fall“ und „ihr dürft niemals“ besteht und diejenigen, die eine kleine Abzweigung oder eine individuelle Routenführung auf dem Weg zum Ziel bräuchten, eben einfach Pech haben und auf der Strecke bleiben werden, weil selbstständig und selbstbestimmt denken und fühlen abgeschafft wurden.