Unser 19. Buch.
Eines vorweg, es ist extrem schwer, nein es ist unmöglich,
unvoreingenommen an dieses Buch heranzugehen. Ich war komplett überrascht, dass
meiner Anfrage nach einem Rezensionsexemplar wirklich nachgekommen wurde, aber
mit dem Wissen welches Leid die Lehre rund um die vererbte Rudelstellung in der
Hundewelt bereits ausgelöst hat, möchte ich hier von vornherein darauf
hinweisen, dass die Lektüre und Rezension dieses Buches rein dazu diente, die Argumentation und Gedankengänge dahinter besser verstehen zu können, um die Chance
zu erhöhen, dass man bei künftigen Begegnungen mit Interessenten dieser
„Theorie“ besser gewappnet ist, mit zielgerichteter Argumentation möglichst viele
davor bewahren zu können, mit ihrem Hund diesen Irrweg einzuschlagen.
Schon die Einführung, in der die Autorin erklärt, woher
ihr Wissen stammt, wirkt befremdlich. Das blutjunge Mädchen, das eigentlich
nur einen Hund bein einem älteren Mann kaufen will und ihn letztlich erst einmal begleiten und seine
„Kunst“ erlernen muss, klingt im besten Fall eigenartig. Es stellt sich auch
die Frage, wie die Autorin ihren Lebensunterhalt bestritten hat, wenn sie ein
Jahr lang mit Herrn Werner durch ganz Deutschland gereist ist, um 60 Würfe über
mehrere Tage zu beobachten. Zumal man sich auch wundert, wieso der große Meister
sein Geheimwissen nur an dieses fremde Mädchen, zu dem er keinerlei Verbindungen
hatte, weitergab. Egal, es ist eine schöne Story von der einen Auserwählten,
wie man sie aus der modernen Literatur zur Genüge kennt und von der man weiß,
dass Leser sie lieben.
Im Anschluss erklärt die Autorin, den Aufbau des
strukturierten Rudels mit allen sieben Stellungen innerhalb des Rudels und
auch, dass die Hunde sich bei Wanderungen nur entsprechend ihrer
Stellungen aufreihen. Fehlt die Struktur im Rudel, so die Behauptung, würde man
das bereits an der Formation beim Laufen erkennen Solche unstrukturierten Rudel
müssten unbedingt vermieden werden, weil sie Stress und Aggression in der
Gruppe fördern. Das größte Probleme der modernen Hundehaltung sei,
dass dies nicht erkannt werde.
Es wird kein ernstzunehmender Gedanke daran verschwendet,
wieso die Verhaltensbiologie und der Rest der Welt die unumstößlich angeborene
Geburtsstellung nie thematisiert haben. Man ist felsenfest überzeugt, das Ei
des Kolumbus Mitte des 20. Jahrhunderts in einer Gartenlaube gefunden zu haben.
Im Anschluss wird kurz auf die verschiedenen Stellungen
innerhalb des Rudels und deren Unterschiede eingegangen. Der Leser wird mit
verschiedenen Leit- und Bindehunden bekannt gemacht, für jede Stellung gibt es
dazu eine eingängige Abkürzung. Die Stellung sei angeboren, würde sich wie
Rasse und Geschlecht ein Leben lang nicht wirklich ändern bzw. ändern lassen und dem
Hund von der ersten bis zur letzten Sekunde festlegen, welche Aufgaben dieser
Hund übernehmen kann und soll. Man ist der felsenfesten Überzeugung, dass
Rasse, Geschlecht und Individualität hinter die Geburtsstellung in der
Bedeutung zurücktreten. Alles egal, alles kann vernachlässigt werden, so lange man
nur die Stellung des Hundes kennt und respektiert.
Das Erkennen und Einordnen der einzelnen Stellungen wird
im Anschluss behandelt und es wird gleich von Anfang an klargemacht, dass es
hier große Schwierigkeiten geben kann. Zusammengefasst kann man eigentlich
sagen, dass man, diese schwierige Aufgabe am Besten auf einem
kostenpflichtigen Seminar einem „Profi“ überlässt. Im Anschluss erhält jeder Hundetyp eine kurze
Erklärung, welche Charaktereigenschaften sich aus seinen Aufgaben im Rudel
ergeben, wie man als Mensch damit umgehen muss, mit einem solchen Hund
zusammenzuleben und welche – meist negativen – Auswirkungen es hat, wenn diese
Vorgaben nicht berücksichtigt werden.
Es folgen vier Seiten verwackelte Fotos auf denen Treffen
von Hunden zu sehen sein sollen, die sich gegenseitig korrekt in ihrer Stellung
identifizieren.
Doch die Unterscheidung in sieben Stellungen reicht noch
nicht, die Autorin hat, abweichend von den Lehren ihres Meisters, noch
zusätzlich sechs weitere Einteilungen „erarbeitet“, die beschreiben, wie
eindeutig die Stellungen ausgeprägt sein sollen. Spätestens an diesem Punkt
schwirrt dem Leser der Kopf.
Es folgen eine Menge Anmerkungen zum alltäglichen Leben
mit Hunden aus denen eine Behauptung besonders hervorsticht. So wird den Hunden
die Anpassungsfähigkeit und Flexibilität abgesprochen. Laut Frau Ertel handelt
es sich bei den beobachteten Anpassungen nur um eine Kompensationsstrategie, gleichsam einer Zwangsstörung
zur Trauma Bewältigung, wenn die Tiere nicht entsprechend ihrer Rudelstellung
leben können. Die Rede ist von großem seelischen Leid und Qualen, die ein
solches Leben den Hunden bereitet, die ihnen der Profi auch ansieht, die nur vom Halter zu oft übersehen werden. Man packt die Hundehalter dort wo es wirklich schmerzt, nämlich beim Vorwurf
man würde den geliebten Vierbeiner leiden lassen und dieses Leid auch
noch selbst verursachen.
Auch bei Ausbildung, Sport und Beschäftigung muss man
selbstverständlich auf die Rudelstellung achten. Bestimmte Stellungen eignen
sich für bestimmte Aufgaben, die Rasse ist hierbei mal wieder Nebensache. Nach
dieser Logik ist der V3 oder N3 Golden Retriever IMMER der bessere Personenschutzhund
als der V2 oder N2 Rottweiler, während Eckhunde offensichtlich gar nicht
ausgebildet werden können/sollen, an ihnen soll man sich einfach an ihrem
Charakter erfreuen. Eine hervorragende Ausrede für jeden unerzogenen Hund.
Was folgt ist nochmal eine Aufschlüsselung der einzelnen Stellungen
und worauf man bei ihrer Erziehung achten muss, wer sich für Einzelhaltung
eignet, wer unbedingt einen oder mehrere andere Hunde im Haushalt benötigt, wie
man Paar- und Mehrhundehaltung bis zum Teilrudel oder kompletten Rudel aufbaut,
wie man Fehlstellungen vermeidet und „Lücken“ füllt, wieso es bei Senioren noch
wichtiger ist, auf bestimmte Dinge zu achten und wie man mit
verhaltensauffälligen Hunden umzugehen hat.
Wieder ein Satz verwackelter Fotos und dann geht
es an die Königsdisziplin: Zucht und Zuchtbeurteilung nach Rudelstellung.
Gesund und glücklich und vor allem „normal“ können Hunde
nur werden, wenn sie bereits vom ersten Tag an in ihrer angeborenen Stellung „professionalisiert“
werden. Es wird in drei Kategorien aufgeteilt. Ein Wurf kann perfekt,
akzeptabel oder nicht akzeptabel sein.
Im perfekten Wurf sieht die Autorin sieben Welpen mit
unterschiedlicher Stellung, dies wirke sich nicht nur ideal auf den Charakter,
sondern auch auf die körperliche Gesundheit aus. Im akzeptablen Wurf fehlen
Stellungen, aber nie der mittlere Bindehund, weil dieser dafür sorgt, dass die fehlende
Stellung durch andere kompensiert wird. Alle anderen Würfe werden als „nicht
akzeptabel“ eingestuft, sprich jeder Wurf mit mehr als sieben Welpen ist nach
Wertung der Autorin eine Katastrophe, die keine Chance auf eine unauffällige Entwicklung
haben und stets Verhaltensauffälligkeiten entwickeln würden. Mutterhündinnen
die „stellungsstark“ seien, würden solche Würfe „reparieren“ oder auch „komplett
vernichten“. Eine Ansicht, bei dem es jedem kalt den Rücken runterläuft. Eine
Hündin, die die eigenen Welpen tot beißt, sobald es mehr als sieben sind, ist
also offensichtlich in der Welt der Rudelstellung ein erstrebenswertes Ziel.
Fortpflanzen sollten sich ohnehin nur bestimmte
Stellungen, was sich angeblich im kompletten Rudel automatisch und
selbstverständlich ergeben würde und automatisch dazu führt, dass nur perfekte Würfe fallen. Auch die Ordnung in der Wurfkiste sei
essentiell für die Entwicklung der Welpen, so dürfe man die Welpen nicht
umlegen, um die Stellungen nicht zu verwirren und die Entwicklung nicht zu
gefährden. Hier drängt sich die Frage auf, wie das örtliche verschieben der
Welpen auf den zwei Quadratmetern einer Wurfkiste so großen Einfluss haben
kann, dass es die genetische Veranlagung stören kann, aber darauf wird
selbstverständlich nicht eingegangen.
Spannend sind auch die Ausführungen zu Fehlentwicklungen
in „nicht akzeptablen“ Würfen. So gäbe es angeblich in natürlich strukturierten
Verbänden, niemals Mehrfachbesatz. Die Biologie erkennt automatisch, wenn sich
Vorderer Leithund und Mittlerer Bindehund verpaaren und begrenzt die Welpenzahl
automatisch auf sieben. Laut Ertel krankt die moderne Hundezucht in erster
Linie daran, dass IMMER der falsche Deckrüde gewählt wird, weil sich der VLH
weder als guter Familienbegleithund noch als Arbeitshund eignet. In der Welt
der Rudelstellung ist die natürliche Selektion und Vererbungslehre
offensichtlich ein Märchen. Gezüchtet werden soll nicht mit Hunden, die
die Eigenschaften aufweisen, die man erhalten will, sondern nur anhand der beim schlafenden Welpen zugeordneten Stellungen, um stets körperlich und geistig
gesunde siebener Würfe zu produzieren vom Chihuahua bis zur Deutschen Dogge…
Den Abschluss bilden wieder zwei Blöcke verwackelte
Fotos, die irgendetwas von dem geschriebenen verdeutlichen sollen, eine
Zusammenfassung, was die Autorin bereits erreicht hat und was sie mit ihrem
Verein noch erreichen will, eine Danksagung einer Züchterin, die zu meinem
großen Entsetzen im VDH züchtet, Adressen für alle, die sich mehr mit dem Thema
auseinandersetzen wollen und nochmal ein Glossar mit einer Kurzerklärung der „wichtigsten“
Begriffe.
Nach 198 Seiten mit übertrieben großem Schriftbild, 119 teils
extrem verwackelten Beweisfotos und einer Hand voll Diagrammen dreht sich
alles, vor allem weil einem vom andauernden Kopfschütteln mit der Zeit
schwindelig geworden ist. Ich hatte erhofft im „Verständigungsschlüssel“
wenigstens ansatzweise eine Erklärung dafür zu finden, wieso immer wieder
Hundehalter dieser Philosophie folgen, selbst solche von denen man mehr
erwarten würde. Es bleibt unbegreiflich, wie ein Züchter, der auch nur ein
einziges Basisseminar in Zucht und Genetik besucht hat, irgendetwas davon
glauben kann. Wer sich nie mit der Thematik Hund, Rassen und Charakterbildung
auseinandergesetzt hat, könnte an der ein oder anderen Stelle ins Netz gehen,
doch spätestens beim Thema „Zucht“ sollte der gesunde Menschenverstand
ausreichen, um sehr, sehr skeptisch zu werden und das selbst dann, wenn man der
Autorin nicht zufällig früher auf einer großen Online Plattform begegnet ist, zu
einer Zeit, in der sie sich offenbar temporär der Lehren ihres Meisters nicht
mehr bewusst war.
Das Buch ist ein erschreckendes Zeugnis, wie vehement man
echte wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen kann und wie schnell man Menschen
einwickeln und verführen kann, wenn man nur genug von sich selbst überzeugt zu
sein scheint, die Leute auf der emotionalen Breitseite erwischt („DU bist
schuld, dass dein Hund seelische Höllenqualen leidet!“) und gleichzeitig eine
vermeintlich einfache Lösung parat hält.
Ich hoffe, das nächste Buch auf meiner Leseliste wird
mich nicht derart entsetzen und mich nicht erschüttert und fassungslos
zurücklassen:
Klaus Glöckner: „Der gewaltfreie Weg zum Verbellen“