Hundetraining sollte nie reine Symptombehandlung sein. Man sollte immer nach der Wurzel des Problems forschen und das zugrundeliegende Problem behandeln und therapieren und nicht nur an einzelnen unerwünschten Verhaltensweisen herumdoktern soll. Ein ehrenvoller Grundsatz, den man so auch unterschreiben kann. Nur leider nimmt dieser Gedanke, wie so vieles, in der Hundewelt bisweilen bizarre Züge an.
Gerade bei Hunden aus zweiter Hand fixieren sich die neuen Besitzer bei Problemen oftmals geradezu krankhaft darauf, dass die Wurzel des Problems irgendwo in der Vergangenheit liegt. Der Hund hat Angst, im Dunkeln durch die Straßen zu laufen oder er reagiert aggressiv auf fremde Menschen? Dafür muss es einen tiefergehenden Grund geben, der mit Sicherheit in seiner Vergangenheit liegt. Irgendein Trauma muss dem armen Tier da zugestoßen sein, das nun zu diesem Verhalten führt.
Das ist der Punkt, an dem bei vielen Hundehaltern dann die Fantasie beginnt, Amok zu laufen.
Denn leider reicht vielen die einfachste und naheliegendste Erklärung nicht. Der Tierschutz DSH verhält sich Fremden gegenüber aggressiv? Nein, das kann natürlich nicht daran liegen, dass er rassegemäß einfach territorial ist und ihm niemals jemand erklärt hat, dass ein solches Benehmen im Alltag nicht geduldet wird. Nein, es Hund reagiert nicht so, der ist im Grunde seines Herzens immer friedliebend und gut und wenn er so reagiert, muss ihm in seinem früheren Leben etwas Schlimmes zugestoßen sein. Misshandlung, Vernachlässigung, brutale Ausbildung, irgendetwas muss dieser armen Seele angetan worden sein, was erklärt, wieso Hund sich nun so verhält.
Der nette kleine Mischling aus dem Auslandstierschutz hat schon zweimal Menschen angegriffen und da mal saftig in die Waden gehackt? Hm, beide Opfer hatten ein Handy in der Hand. In seinem bisherigen Leben auf der Straße hatte der Hund bestimmt keinen Kontakt zu moderner Technik. Bestimmt reagiert er auf die Strahlung und wird deshalb aggressiv. Die Überlegung, dass die Opfer einfach abgelenkt waren und beim Blick auf das Display einfach den Hund übersehen haben, der bereits drohend neben ihnen stand, ist als Erklärung zu einfach.
Man muss bis ganz runter an die Wurzel vordringen, bis an die Spitze, denn, wenn man keine Antwort auf die große Frage nach dem „warum“ hat, kann man sich nicht mit dem Training auseinandersetzen. Dabei reicht es eben nicht aus, die verhaltenstechnische Ursache des Problems zu kennen. Der Hund ist territorial und ihm fehlt Erziehung und Führung im Alltag, ist für solche Hundebesitzer ebenso unzureichend wie der Hund ist unsicher und reagiert mit Abwehraggression, wenn man seine Individualdistanz unterschreitet. Nein, es reicht nicht, die Mechanismen hinter dem Problem zu verstehen, man braucht mehr, man braucht einen Schuldigen. Jemand muss Schuld daran tragen, dass es mit dem Hund nicht klappt, wie man sich das vorstellt und man jetzt trainieren und erklären muss, warum Hund sich immer mal wieder danebenbenimmt. Mit einem Schuldigen scheint das vielen Hundehaltern so viel leichter zu fallen. Offensichtlich kommt einem „Mein Hund ist territorial, wir arbeiten daran“, um ein vielfaches Schwerer über die Lippen als „Mein Hund wurde vom Vorbesitzer geschlagen, damit er das Grundstück bewacht“.
Auch verzeiht einem das Umfeld anscheinend auch leichter, wenn man sich auf diesen Fantasiegeschichten ausruht. Man selbst ist ja nicht schuld. Schuld hat der böse Vorbesitzer, der skrupellose Züchter oder das traurige Leben auf der Straße, auf das man sich bei Schwierigkeiten immer berufen kann. Man kann es auch sehr schön immer parallel verfolgen. Wer sich auf die Suche nach einer tieferliegenden Erklärung – oder einfach einer Ausrede – für das Verhalten ihres Hundes machen, ist meist auch weniger gewillt, daran zu arbeiten und Zeit in Training zu investieren. Die Suche nach der Wurzel des Übels verkommt schnell zur Rechtfertigung für einen unerzogenen Hund und die Besitzer erwarten auch noch Applaus dafür, dass sie das arme Wesen gerettet haben.
Ich denke es wird Zeit, solchen Hundehaltern diesen Zahn samt Wurzel endlich mal zu ziehen. Es bringt nichts, sich auf der Vergangenheit auszuruhen und von einer Entschuldigung in die nächste zu flüchten. Am allerwenigsten nutzen solche Hirngespinste dem betroffenen Hund. Dem würde es am besten gehen, wenn der neue Besitzer aufhören würde nach Beifall und Mitleid zu heischen und den aktuellen Ist-Zustand einfach anerkennen würde und die Arbeit aufnimmt, um dem Hund durch Training und weitere Erziehung eine bessere und stressfreiere Zukunft bieten zu können.